Auszug aus dem Buch von Raniero Cantalamessa
Die Eucharistie, unsere Heiligung, Köln 1998, S. 91-111
FÜNFTES KAPITEL
»Tut dies zu meinem Gedächtnis«
Die Eucharistie bildet die Kirche durch Kontemplation
Bisher habe ich zu zeigen versucht, wie die Eucharistie durch Konsekration und durch Kommunion die Kirche bildet. In dieser Meditation nun will ich darauf zu sprechen kommen, dass die Eucharistie die Kirche auch noch auf eine andere Weise bildet, nämlich durch Kontemplation.
Eucharistie und Kontemplation sind zuweilen als zwei verschiedene, gleichsam parallel verlaufende Wege zur christlichen Vollkommenheit aufgefasst worden. Der erste ist bekannt als der Weg des Mysteriums oder der objektive Weg, der den Sakramenten (den Mysterien) und insbesondere der Eucharistie den Vorrang gibt; der zweite als der mystische oder subjektive Weg, der vor allem über die Kontemplation führt. Man hat in diesem Zusammenhang eine gewisse Unterschiedlichkeit zwischen patristischer und neuzeitlicher Epoche sehen wollen, zwischen orthodoxer und westlicher Spiritualität. Die patristische Spiritualität, die die Orthodoxie treuer bewahrt habe, stütze sich eher auf die Mysterien; die westliche dagegen gründe sich unter dem Einfluss einiger großer Mystiker der Neuzeit in stärkerem Maße auf die Kontemplation oder – wie es eine von ihnen, die heilige Theresia von Avila, ausdrückt – auf das Leben des Gebetes.
Wie auch immer die Dinge sich tatsächlich verhalten mögen (die Wirklichkeit ist immer weitaus komplexer als solche Schemata), ich halte den Moment für gekommen, diese beiden Wege in Übereinstimmung zu bringen, oder besser, die Übereinstimmung wieder zu entdecken, die über diesen Punkt bis an die Schwelle der Neuzeit geherrscht hat und die dann aus verschiedenen Gründen verloren gegangen ist. In dieser vereinheitlichenden Sicht sind die Sakramente und das Leben des Gebetes nicht zwei Alternativen, zwei verschiedene »Wege« zur Heiligkeit, sondern eng miteinander verbunden und wechselseitig voneinander abhängig. Natürlich ist es das Leben aus den Sakramenten, das allem anderen zugrunde liegt, es sind die »Mysterien«, die die unmittelbare und objektive Verbindung herstellen zwischen uns und der Erlösung, die Gott durch Christus Jesus ein für allemal bewirkt hat. Doch sie allein genügen nicht, um uns auf dem spirituellen Weg fortschreiten zu lassen; das Leben aus den Sakramenten muss von innen her durch ein Leben der Kontemplation ergänzt werden. Denn die Betrachtung ist der Weg, auf dem wir die Mysterien erst eigentlich »empfangen«, der Weg, auf dem wir sie verinnerlichen und uns ihrer Wirkung öffnen; sie ist das, was den Mysterien auf der existentiellen und subjektiven Ebene entspricht; durch sie wird es der in den Sakramenten empfangenen Gnade möglich, unser Inneres zu formen – unsere Gedanken, unsere Gefühle, unseren Willen, unsere Erinnerung.
Erst wenn wir uns das göttliche Leben, das mit den Sakramenten in uns hineingelegt worden ist, durch die Kontemplation wirklich zu eigen machen, wird es ganz konkret auch in unseren Handlungen Ausdruck finden, das heißt in der Übung der Tugenden und insbesondere der Liebe. So, wie es keine menschliche Handlung gibt, die nicht von einem Gedanken her ihren Ausgang nimmt (und wenn es sie gibt, dann ist sie völlig wertlos oder in hohem Maße gefährlich), so gibt es auch keine christliche Tugend, die nicht aus der Kontemplation hervorgeht. Der heilige Gregor von Nyssa schreibt: »Drei Bestandteile sind es, die das christliche Leben kenntlich machen und auszeichnen: das Werk, das Wort und der Gedanke. An erster Stelle unter ihnen steht der Gedanke, dann kommt das Wort, welches das, was im Geist ersonnen worden ist, in Begriffen erschließt und ausdrückt; schließlich, an dritter Stelle, befindet sich das Werk, welches das, was man gedacht hat, in Taten übersetzt. Die Vollkommenheit des christlichen Lebens besteht darin, Christus ganz gleich zu werden, zunächst im inneren Bereich des Herzens, sodann im äußeren Bereich des Handelns«‘.
Die Kontemplation ist somit der unumgängliche Weg, um von der Kommunion mit Christus in der Messe überzugehen zur Imitation Christi im Leben. Wie man also von einer allgemeinen Berufung aller Getauften zur Heiligkeit spricht, so muss man auch von einer allgemeinen Berufung aller Getauften zur Kontemplation sprechen. Der Weg der christlichen Vollkommenheit führt von den Mysterien zur Kontemplation und von der Kontemplation zur Aktion.
Gemeinsam bilden diese drei Bestandteile einen einzigen Weg zur Heiligkeit, der infolge der unermesslichen Gnade Gottes und der frei antwortenden Willensentscheidung des Menschen allen Getauften offen steht. Der »Vorrang der Kontemplation« vor der Aktion will nicht besagen, dass die Betrachtung »größer« ist als die Übung der Tugenden und des aktiven Lebens, sondern dass sie »zuerst« kommt, dass sie die Quelle des Handelns ist. Und das gilt insbesondere dann, wenn wir von einer bestimmten Art des kontemplativen Lebens sprechen, die allen offen steht und allen möglich ist.
1. Das ständige Gedächtnis Christi
Sobald wir es unternehmen, diese auf die Mysterien bezogenen allgemeinen Vorbemerkungen näher auf die Eucharistie anzuwenden, entdecken wir sofort, wie wichtig und aktuell sie sind. Denn aus ihnen ergibt sich, dass es, um Christus gleich zu werden, nicht genügt , seinen Leib zu essen und sein Blut zu trinken; ebenso notwendig ist es, dieses Geheimnis zu betrachten. Eucharistie und Inkarnation haben große Ähnlichkeit miteinander. Bei der Menschwerdung, so schreibt der heilige Augustinus, »empfing Maria das Wort im Geiste, ehe sie es im Leib empfing« (prius concepit mente quam corpore). Ja er fügt sogar hinzu, dass es ihr nichts genützt hätte, Christus in ihrem Schoße zu tragen, hätte sie ihn nicht auch liebend in ihrem Herzen getragen.;
Maria war also nach der Inkarnation nicht nur in ihrem Leib, sondern auch in ihrem Geist von Jesus erfüllt; sie war von Jesus erfüllt, weil sie an Jesus dachte, weil sie Jesus erwartete (und wie sie ihn erwartete!), weil sie Jesus liebte. Wie jede Frau, die ein Kind »erwartet«, aber in weit vollkommenerem Maße, war sie ganz in sich selbst versunken. Ihre Augen schauten mehr nach innen als nach außen, weil dort, in ihrem Innern, ihr Schatz verborgen war, weil sie in ihrem Innern ihr süßes Geheimnis trug, das sie in sprachloses Staunen versetzte. Maria aber, so steht im Lukasevangelium geschrieben, bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach (Lk 2,19). Dadurch erscheint sie uns als vollkommenstes Vorbild dessen, was wir unter eucharistischer Kontemplation verstehen: genauso muss sich der Christ verhalten, der Jesus soeben in der Eucharistie empfangen hat. Auch er muss Christus, nachdem er ihn in seinen Leib aufgenommen hat, ebenso in seinen Geist aufnehmen (Empfängnis ist ja ein in sich Aufnehmen). Und Christus im Geist aufnehmen bedeutet ganz konkret, an ihn zu denken, den Blick auf ihn zu richten, sich seiner zu erinnern. Genau das ist das Schlüsselwort unserer heutigen Meditation: uns an Christus erinnern, sein Gedächtnis halten.
Bei der Einsetzung der Eucharistie hat Christus dieses Wort geheiligt; er sprach: Tut dies zu meinem Gedächtnis (Lk 22,19). »Gedächtnis« – das ist die Kategorie, die die Eucharistie ideell mit dem jüdischen Pascha verbindet, das ja, wie man weiß, ebenfalls ein Gedenken war (vgl. Ex 12,14). Seine Bedeutung ist derartig, dass der heilige Paulus in seinen Einsetzungsbericht jenen Auftrag Jesu sogar zweimal erwähnt. Und er erklärt auch, was dieses Gedächtnis Jesu beinhaltet: Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn (1 Kor 11,26). Es beinhaltet den Tod Christi.
Das eucharistische Gedenken hat eine zweifache Dimension oder Bedeutung: eine, die auf Gott, und eine, die auf den Menschen bezogen ist; wir können daher von einer theologischen und einer anthropologischen Dimension sprechen. In theologischer Hinsicht besteht das Gedenken darin, Jesus dem Vater ins Gedächtnis zu rufen – wir bitten den Vater, dessen zu gedenken, was Jesus für uns getan hat, damit er uns aus Liebe zu ihm vergibt und uns hilft. Mit anderen Worten: wir erinnern den Vater an Jesus, damit er sich an uns erinnert. J. Jeremias hat jenes Wort Jesu so erklärt: »Tut dies, damit der Vater meiner gedenkt«. Wenn die Israeliten des Alten Testamentes sich in Augenblicken großer Not an Gott wandten, riefen sie: »Erinnere dich Abrahams, unseres Vaters, erinnere dich an Isaak, an Jakob«; in einem Psalm heißt es: O Herr, denk an
David, denk an all seine Mühen (Ps 132,1). Doch wir, das Volk des Neuen Bundes, können in viel wirkungsvollerer Weise zu Gott rufen, wir können ihm sagen: Denk an Jesus, deinen Sohn, und an sein Opfer! Dafür gibt uns die Liturgie der Kirche ein Beispiel. Die eucharistischen Gebete der Messe – insbesondere das Vierte Hochgebet – sind nichts anderes als eine Anamnese, das heißt, sie erinnern den Vater an Jesus. In wunderschöner kindlicher Einfalt erzählen sie (als ob der Vater es nicht wüsste!), was sein Sohn sagte , und was er für uns tat, als er noch auf Erden weilte: »Er ist Mensch geworden… Er hat sich dem Tod überliefert… Er hat von dir, Vater, als erste Gabe für alle, die glauben, den Heiligen Geist gesandt… Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung. Und als die Stunde kam, da er von dir verherrlicht werden sollte, nahm er beim Mahl das Brot… « Auch die eigentlichen Konsekrationsworte haben erzählenden Charakter, auch sie erstatten dem Vater Bericht über das, was Jesus sagte, als er das Brot nahm und es für uns brach. Und erst, nachdem der Vater ausführlich an Jesus erinnert worden ist, bitten wir ihn, er möge auch an uns denken: »Herr, gedenke aller, für deren Heil wir das Opfer darbringen«; »Gedenke deiner Kirche«.
In anthropologischer oder existentieller Hinsicht besteht das eucharistische Gedenken nicht mehr darin, Jesus dem Vater ins Gedächtnis zu rufen, sondern uns selbst: wir selbst erinnern uns an ihn. Viele Jahrhunderte lang war im »Römischen Kanon« das erste Gebet, das der Priester nach der Konsekration sprach, das Unde et memores: »Darum, gütiger Vater, feiern wir, deine Diener und dein heiliges Volk, das Gedächtnis deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus. Wir verkünden sein heilbringendes Leiden, seine Auferstehung von den Toten und seine glorreiche Himmelfahrt …«‘ Wir müssen uns wieder neu bewusst werden, welche unermessliche spirituelle Macht in diesem Gedenken Jesu verborgen liegt. Wir müssen es in diesem Land der Pilgerschaft zur Quelle unserer Freude und Kraft machen. »Süß ist das Gedächtnis Jesu, das dem Herzen die
wahre Freude schenkt«, heißt es in einem alten liturgischen Gesang, der auf den heiligen Bernhard zurückgeht.‘ Wir müssen dahin gelangen, zu Jesus das zu sagen, was Jesaja im Alten Testament zu Gott sagte: Deinen Namen anzurufen und an dich zu denken ist unser Verlangen (Jes 26,8). Eine Erinnerung, die uns in den Sinn kommt, hat die Macht, unsere ganze innere Welt aus den Angeln zu heben und mit sich fortzureißen auf den Gegenstand der Erinnerung zu – vor allem dann, wenn es sich nicht um eine Sache, sondern um eine Person, um einen geliebten Menschen handelt. Wenn eine Mutter an ihr Kind denkt, das sie wenige Tage zuvor zur Welt gebracht und nun zu Hause gelassen hat, dann eilt sie innerlich zu ihm, ihr Mutterherz strömt über vor Zärtlichkeit, und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Dasselbe, freilich in mehr geistiger Weise, widerfährt den Heiligen, wenn sie an Gott denken, und so heißt es auch in einem Psalm: Ich denke an dich auf nächtlichem Lager und sinne über dich nach, wenn ich wache (…); jubeln kann ich im Schatten deiner Flügel (Ps 63,7f.).
Die Erinnerung ist eine der geheimnisvollsten und großartigsten Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Alles, was wir von frühester Jugend an gesehen, gehört, gedacht und getan haben, ist aufgehoben in dieser immensen »Höhle«, die doch keinerlei Raum beansprucht, bereit, auf einen Wink des Willens hin zu neuem Leben zu erwachen und ans Licht zu treten. Der heilige Augustinus hat sehr schöne Dinge über das Gedächtnis geschrieben, das für ihn sogar Zeichen und Spur der Dreifaltigkeit war: »Groß ist die Macht meines Gedächtnisses, gewaltig groß, o mein Gott, ein Inneres, so weit und grenzenlos. Wer kann ihm auf den Grund kommen? Es ist in gewisser Weise schwindelerregend (…). Seit dem Tage, da ich dich kennen lernte, wohnst du in meinem Gedächtnis, und dort finde ich dich, sooft ich deiner gedenke, und freue mich in dir«6. Gott, den alle Himmel nicht fassen können, ist eingeschlossen in diesem Tempel des menschlichen Gedächtnisses! Das lateinische Wort für erinnern ist recordari und bedeutet wörtlich, von neuem (re-) aufsteigen lassen zum Herzen (cor). Es handelt sich also nicht nur um eine Aktion des Verstandes, sondern auch um eine des Willens und des Herzens; in seiner spirituellen Bedeutung heißt sich erinnern, in Liebe an etwas denken. Jesus führt die Tatsache, dass wir uns an ihn erinnern können, sogar auf das Wirken des Heiligen Geistes zurück (vgl. Joh 14,26).
Die Kirchenväter, vor allem die griechischen, haben in Anknüpfung an das in der Liturgie aufgegriffene Wort Jesu: Tut dies zu meinem Gedächtnis eine eigene, sehr reiche eucharistische Frömmigkeit entfaltet. Für sie ist der spirituelle Gewinn aus der Eucharistie nichts anderes als das fortwährende Gedächtnis Jesu. Denn durch dieses ständige Gedenken nimmt Gott Wohnung in der Seele des Gläubigen und macht sie zu seinem Tempel. Nach der Auffassung des heiligen Basilius beabsichtigte Jesus mit der Einsetzung der Eucharistie einzig und allein, »dass wir uns, indem wir seinen Leib essen und sein Blut trinken, immer an ihn, der für uns gestorben und auferstanden ist, erinnern sollten«‘.
Diese Väter betonen jedoch vor allem eines: um eine wirkliche Umwandlung unseres Herzens zu erreichen, muss die Betrachtung der Mysterien »beharrlich« sein. »Der gnadenvolle Schmerz entsteht aus der Liebe zu Christus, und die Liebe entsteht aus den Gedanken , die Christus und seine Liebe zu den Menschen zum Gegenstand haben; deshalb ist es eine große Hilfe, solche Gedanken in der Erinnerung zu bewahren, sie in der Seele zu hegen und von dieser Beschäftigung niemals abzulassen. Es ist darüber hinaus nützlich zu versuchen, diese Übung unablässig fortzusetzen, ohne sich von irgend etwas unterbrechen zu lassen, möglichst das ganze Leben hindurch oder zumindest sehr häufig, so dass diese Gedanken sich der Seele einprägen und das Herz ganz in Besitz nehmen. Wie das Feuer auf die Gegenstände, die es berührt, keinerlei Wirkung ausüben kann, wenn der Kontakt nicht andauert, so kann ein flüchtiger Gedanke im Herzen keine Leidenschaft entfachen; es bedarf einer gewissen Zeit, lang und beständig«‘.
Wir müssen also zu erreichen versuchen, dass das Gedächtnis Jesu in unser Denken eindringt und es durchströmt, wie der Honig die Waben. Das ist keineswegs unmöglich und auch nicht außerhalb der gewöhnlichen Reichweite der Christen. Viele – auch in der Welt lebende – Gläubige haben dies in ihrer Seele erfahren, zumindest für einen längeren Zeitabschnitt. (Freilich kann man nicht verlangen, in diesem Leben in den dauerhaften und unveränderlichen Besitz dieses fortwährenden Gedenkens zu gelangen.) Dabei ist es vor allem in der Anfangszeit hilfreich, leise vor sich hin oder auch nur im Geiste immer wieder ein Wort zu wiederholen, etwa eine fortwährende Anrufung des Namens Jesu.
Die Wirkung dieses so einfachen Mittels ist schier unglaublich. Das liegt daran, dass der Name Jesu nicht einfach ein »Name« ist; er umschließt das Geheimnis und die Macht der Person Christi. Die Anrufung des Namens Jesu dient vor allem dazu, stolze, selbstgefällige, zornige oder unreine Gedanken im Keim zu ersticken und im Gegenzug den guten Gedanken größere Kraft zu verleihen. Es genügt, wenn man lernt, die eigenen Gedanken so zu beobachten, als wären es die eines anderen Menschen, und ihnen in ihrer Entwicklung sozusagen zuvorzukommen. Wenn ein Gedanke in uns entsteht, erkennen wir sofort, welche Richtung er nimmt: ob er zu Gott führt oder zu uns, ob er dem Ruhm Gottes oder unserem Ruhm gewidmet ist. Falls letzteres zutrifft, hilft das wiederholte Aussprechen des Namens Jesu, wenn es im Glauben an die Macht des Herrn geschieht, den Faden des bösen oder unnützen Gedankens zu »kappen« und zugleich in uns ein wenig von der Gesinnung zu schaffen, die »dem Leben in Christus Jesus entspricht« (Phil 2,5). Auf diese Weise wird es dem Menschen zur Gewohnheit, »das im Sinn zu haben, was Gott will, und nicht, was die Menschen wollen« (vgl. Mt 16,23), und sein Herz wird »rein«. Denn das, was unser Herz unrein macht, ist vor allem die Selbstsucht, das Trachten nach unserem eigenen Ruhm. Doch wenn der Mensch Gott betrachtet, dann ist es, als kehre er sich selbst den Rücken: er ist gezwungen, sich zu vergessen, sich selbst aus den Augen zu verlieren. Wer betrachtet, betrachtet nicht sich!
2. Die Anbetung vor dem Allerheiligsten
Bisher habe ich versucht, die allgemeinen Grundsätze der eucharistischen Kontemplation zu verdeutlichen und herauszustellen, welchen Stellenwert wir ihr auf dem Wege unserer Heiligung einräumen müssen. Ich möchte nun auch auf die Formen eingehen, die sie annehmen kann, und auf die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um sie zu pflegen.
Eine erste Form der eucharistischen Betrachtung ist die Wort-Gottes-Liturgie der Messe. Sie ruft uns jedesmal einen Aspekt der Heilsgeschichte und eine Begebenheit aus dem Leben Jesu ins Gedächtnis und fügt auf diese Weise womöglich dem Gedenken des Herrn, das wir begehen, einen teilweise neuen Inhalt hinzu. Die Wort-Gottes-Liturgie veranschaulicht die Eucharistie und hilft, die unermesslichen Tiefen des gefeierten Geheimnisses zu erahnen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: den neunundzwanzigsten Sonntag des liturgischen Jahres im Lesekreis B. Als erste Lesung finden wir Jesaja 53,2ff.: »Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut… «-, als zweite Lesung Hebräer 4,1416: »Da wir nun einen erhabenen Hohenpriester haben…« . und schließlich das Evangelium, Markus 10,34-45: »Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke ? Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen…« Welche Horizonte eröffnet jedes einzelne dieser Worte für die eucharistische Kontemplation! Der Tisch des Wortes bereitet den Tisch des Brotes vor: er weckt die Sehnsucht, steigert die Freude an Christus. Dasselbe geschah bei jener außergewöhnlichen Liturgie, die die Emmausjünger erlebten: die Auslegung der Schrift ließ die Herzen der beiden Jünger entbrennen, die dann, dank dieser Vorbereitung, in der Lage waren, den Herrn am Brechen des Brotes zu »erkennen«.
Eine Form der eucharistischen Betrachtung ist auch die Zeit, die wir vor und nach der Kommunion der Vorbereitung und Danksagung widmen.
Doch die eucharistische Kontemplation schlechthin ist die stille Anbetung vor dem Allerheiligsten. Gewiss, man kann den eucharistischen Jesus auch von ferne betrachten, im Tabernakel des eigenen Herzens (der heilige Franziskus pflegte zu sagen: »Wenn ich der Messe nicht beiwohne, nähere ich mich dem Leib Christi im Gebet, ich bete ihn an mit den Augen des Geistes in derselben Weise, wie ich ihn anbete, wenn ich ihn während der Eucharistiefeier betrachte«‘). Und dennoch: die Kontemplation, gehalten in der realen Präsenz Christi, vor den Gestalten, in denen er verborgen ist, wenn möglich an einem ruhigen und sozusagen schon von seiner Gegenwart durchdrungenen Ort, stellt demgegenüber noch eine Steigerung dar, die uns eine große Hilfe ist.
In seinem Schreiben über Das Geheimnis und die Verehrung der Allerheiligsten Eucharistie vom Gründonnerstag des Jahres 1980 schrieb der Heilige Vater Johannes Paul II.: »Die Anbetung Christi in diesem Sakrament seiner Liebe muss dann auch ihren Ausdruck in vielfältigen Formen eucharistischer Frömmigkeit finden: persönliches Gebet vor dem Allerheiligsten, Anbetungsstunden, kürzere oder längere Zeiten der Aussetzung, das jährliche Vierzigstündige Gebet (…). Die Belebung und Vertiefung der eucharistischen Frömmigkeit sind der Beweis für jene wahre Erneuerung, die das Konzil sich zum Ziel gesetzt hat und deren inneren Kern sie darstellen (…). In diesem Sakrament der Liebe wartet Jesus selbst auf uns. Keine Zeit sei uns dafür zu schade, um ihm dort zu begegnen: in der Anbetung, in einer Kontemplation voller Glauben«. Ein solcher Aufruf war notwendig. Denn die traditionelle eucharistische Frömmigkeit war ziemlich in Vergessenheit geraten über der mit Eifer betriebenen liturgischen Erneuerung, die sich naturgemäß mehr mit dem gemeinschaftlichen und rituellen Bereich befasst als mit dem der persönlichen Frömmigkeit. Und man vernachlässigte sie auch aus einer gewissen naiven Überbewertung soziologischer und säkularistischer Ansätze, die die Eucharistie fast ausschließlich unter dem sogenannten horizontalen Aspekt betrachten, das heißt sie als bloße Tischgemeinschaft begreifen. Die zentrifugale Bewegung (hin zu den Armen, zu politischem Engagement, zur Dritten Welt etc.), die nach dem Konzil so viele christliche Gemeinschaften geprägt hat, muss wieder ausgeglichen werden von einer zentripetalen Bewegung, einer Bewegung also, die zum Herzen der Gemeinschaft zurückführt, in ihre Mitte, wo die Eucharistie ist. Der Erzbischof von Mailand, C. M. Martini, betont in seinem ersten Hirtenbrief mit dem Titel “Die kontemplative Dimension des Lebens” ebenfalls die Notwendigkeit dieser Wiederentdeckung; er schreibt: »All dies [das heißt die Gestaltung des eigenen Lebens aus der Eucharistie heraus] verlangt konkret die Förderung innerer Verhaltensweisen, die der Eucharistiefeier vorausgehen, sie begleiten und auf sie folgen sollen: das offenbarte Wort hören, die Geheimnisse Jesu betrachten, den Willen des Vaters erspüren, der in den Worten Jesu durchscheint, den Lebensplan, der aus dem eucharistischen Pascha erwächst, mit den immer neuen spirituellen Situationen konfrontieren, in die die Gemeinschaft und die einzelnen Gläubigen sich hineingestellt sehen. Deshalb ist das stille Gebet, das Hören des Wortes, die biblische Meditation, das persönliche Nachdenken nicht als von der Eucharistie getrennt zu betrachten, sondern ganz wesentlich mit ihr verbunden.«
Die Verehrung und Anbetung der Eucharistie außerhalb der Messe ist ein relativ junger Zweig der christlichen Frömmigkeit. Im Westen nahm sie ihren Anfang im elften Jahrhundert als Reaktion auf die Irrlehre des Berengar von Tours, der die Realpräsenz leugnete und eine nur symbolische Gegenwart Jesu in der Eucharistie anerkennen wollte. Jedoch von diesem Zeitpunkt an hat es sozusagen keinen Heiligen mehr gegeben, in dessen Leben die eucharistische Frömmigkeit nicht von entscheidender Bedeutung gewesen wäre. Sie war eine Quelle gewaltiger spiritueller Kräfte, eine Art von Herdfeuer mitten im Hause Gottes, das stets brannte und an dem sich alle großen Söhne und Töchter der Kirche gewärmt haben.
Vielleicht ist es richtig, in der relativ späten Entwicklung des eucharistischen Kultes außerhalb der Messe einen Hinweis zu sehen, hier den verschiedenen christlichen Konfessionen eine gewisse Freiheit einzuräumen.` Diese eucharistische Frömmigkeit ist ein Geschenk des Geistes an die katholische Kirche, und sie muss es voller Dankbarkeit auch stellvertretend für die anderen Christen pflegen, ohne jedoch von ihnen unbedingt dasselbe zu verlangen. Jede große geistige Strömung im Schoße des Christentums hat mit ihrem je eigenen Charisma etwas beigetragen zum Reichtum der gesamten Kirche. Bei den Protestanten ist dies die besondere Verehrung für das Wort Gottes, bei den Orthodoxen die Verehrung der Ikonen (und wie viel haben wir Katholiken ihnen auf diesem Gebiet zu verdanken!); in der katholischen Kirche ist es die Verehrung der Eucharistie. Jeder dieser drei Wege führt im Grunde zu demselben Ziel: zur Betrachtung Christi und seines Geheimnisses.
Wenn die besondere Gabe der katholischen Kirche und das Geheimnis ihrer Kraft in der einzigartigen Weise besteht, in der der eucharistische Jesus in ihrer Mitte gegenwärtig ist und angebetet wird, dann erkennt man erst recht, wie wichtig es ist, dass wir diese Gabe wieder voll auswerten. Es ist, als dränge der Heilige Geist die Kirche nun mit aller Macht, gewisse Formen der eucharistischen Frömmigkeit, die sich durch Gewöhnung und Ritualismus ziemlich verbraucht hatten, wieder aufzugreifen, doch sie in erneuerter Gesinnung aufzugreifen, das heißt, auch in sie das verfeinerte Gespür in biblischen und liturgischen Fragen hineinzulegen, das die christliche Frömmigkeit sich in der Zwischenzeit erworben hat. Wir erleben zur Zeit das Wiedererwachen eines tiefen Bedürfnisses nach eucharistischer Anbetung, danach, dem Herrn zu Füßen zu sitzen wie Maria von Betanien (vgl. Lk 10,39). Wir sind dabei, eine Wahrheit wieder zu entdecken: dass der mystische Leib Christi, die Kirche, nicht auf andere Weise entstehen und sich entfalten kann als geschart um seinen wirklichen Leib, die Eucharistie.
Das meine ich, wenn ich sage, dass die Eucharistie die Kirche durch Kontemplation bildet. Wer ruhig und schweigend und möglichst für längere Zeit vor dem sakramentalen Jesus verharrt, der wird empfänglich für die Erwartungen, die der Herr in ihn setzt, er gibt die eigenen Pläne auf, um frei zu sein für das, was Christus mit ihm vorhat, das Licht Gottes dringt nach und nach in sein Herz ein und lässt es gesunden. Es passiert etwas, das an das Ergrünen der Bäume im Frühjahr erinnert, an den Prozess der Photosynthese. An den Zweigen brechen die Blätter hervor; diese nehmen aus der Luft bestimmte Stoffe auf, die unter der Einwirkung des Sonnenlichts »festgehalten« und in Nahrung für die Pflanze umgewandelt werden. Ohne diese grünen Blättchen könnte die Pflanze nicht wachsen und Frucht bringen, und sie könnte auch nicht zur Erneuerung des Sauerstoffs beitragen, den wir selbst zum Atmen brauchen. Auch wir müssen solche grünen Blätter sein! Sie sind ein Symbol für die eucharistischen Seelen, die Christus, die »Sonne der Gerechtigkeit«, betrachten und auf diese Weise die Nahrung, den Heiligen Geist, »festhalten« zum Wohl des ganzen großen Baumes, der die Kirche ist. Es geht, mit anderen Worten, um das, was auch der Apostel Paulus meint, wenn er schreibt: Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn (2 Kor 3,18).
Ein zeitgenössischer Dichter, Giuseppe Ungaretti, hat einen wundervollen Vers geschaffen, der ebenso gut von einer in Kontemplation vor der Eucharistie versunkenen Seele stammen könnte: »Ich erstrahle von Unermesslichem«.
3. Ich sehe ihn an, und er sieht mich an
Doch was bedeutet das konkret: eucharistische Kontemplation halten? Die eucharistische Kontemplation ist an sich nichts anderes als die Fähigkeit, oder besser die Gabe, von Herz zu Herz eine Beziehung mit dem in der Hostie wirklich gegenwärtigen Jesus herzustellen und sich durch ihn im Heiligen Geist zum Vater zu erheben. All dies sollte sich, wenn irgend möglich, in innerem wie äußerem Schweigen vollziehen. Das Schweigen ist der geliebte Bräutigam der Kontemplation, der sie behütet, so wie Josef Maria behütet hat. Betrachten heißt, all unser Wahrnehmungsvermögen auf die göttliche Wirklichkeit zu richten, die Gott selbst, eines seiner Sinnbilder oder ein Geheimnis aus dem Leben Christi sein kann und sich an seiner Gegenwart zu erfreuen. In der Meditation überwiegt die Suche nach der Wahrheit, in der Kontemplation dagegen die Freude an der gefundenen Wahrheit (Wahrheit verstanden als die in Christus personifizierte Wahrheit, denn die Kontemplation richtet sich immer auf die Person, auf das Ganze und nicht auf die Teile).
Die großen Lehrmeister des Geistes haben die Kontemplation definiert als »ein freimütiges, durchdringendes und unverwandtes Anblicken« (Hugo von Sankt Viktor) oder als »inbrünstigen Blick auf Gott« (Bonaventura). Und deshalb hat jener Bauer aus der Pfarrei von Ars bei seiner eucharistischen Kontemplation genau das Richtige getan, als er Stunden um Stunden regungslos in der Kirche verbrachte, die Augen auf den Tabernakel gerichtet, und der, als ihn der heilige Pfarrer fragte, was er denn da den ganzen Tag über mache, zur Antwort gab: »Nichts, ich sehe ihn an, und er sieht mich an!« Daraus lernen wir, dass christliche Kontemplation niemals nur in einer Richtung verläuft und dass sie sich auch nicht dem »Nichts« zuwendet (wie es bei manchen östlichen Religionen und namentlich im Buddhismus der Fall ist). Immer sind es zwei Blicke, die einander begegnen: unser Blick auf Gott und Gottes Blick auf uns. Mag unser Blick auch zuweilen abschweifen und schwächer werden, so lässt doch der Blick Gottes niemals nach. Die eucharistische Kontemplation beschränkt sich manchmal darauf, Jesus einfach Gesellschaft zu leisten, unter seinem Blick zu verharren und ihm die Freude zu machen, dass auch er seinerseits uns anschauen kann, nichtige und sündige Geschöpfe zwar, doch die Früchte seines Leidens, uns, für die er sein Leben hingegeben hat: »Er sieht mich an!«
Also kann auch jene innere Trockenheit, die wir gelegentlich verspüren – mag sie nun eine Folge unserer eigenen Zerstreuung oder aber um unserer Läuterung willen von Gott zugelassen sein -, die eucharistische Kontemplation nicht wirklich außer Kraft setzen. Es genügt, dieser Trockenheit einen Sinn zu geben, etwa indem man auch auf die aus der Inbrunst entspringende Befriedigung verzichtet , um ihn glücklich zu machen und um mit Charles de Foucauld zu ihm sagen zu können: »Dein Glück, Jesus, genügt mir!«, das heißt: es genügt mir, wenn du glücklich bist. Jesus hat, um uns glücklich zu machen, die ganze Ewigkeit zu seiner Verfügung; wir aber haben, um ihn zu beglücken, nur diesen kurzen Zeitraum: wie können wir eine solche Gelegenheit ungenutzt lassen, die vielleicht niemals wiederkehren wird? Manchmal mag es uns so vorkommen, als sei unsere eucharistische Anbetung bloße Zeitverschwendung, als hielten wir die Augen geöffnet, ohne zu sehen – und doch: welche Kraft liegt darin verborgen, welches Glaubenszeugnis! Jesus weiß, dass wir fortgehen könnten und hundert andere Dinge tun, die uns weitaus mehr befriedigen würden – aber wir bleiben da und vergeuden unsere Zeit in reinem Verlust. Wenn es uns nicht gelingt, mit der Seele zu beten, dann haben wir immer noch die Möglichkeit, mit unserem Körper zu beten, und dies ist ein Beten mit dem Körper (auch wenn die Seele alles andere als abwesend ist).
Wenn wir Jesus im Sakrament des Altares betrachten, dann erfüllen wir die mit Jesu Tod am Kreuz verbundene Prophezeiung: Sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben (Job 19,37). Mehr noch: eine solche Kontemplation ist an sich schon eine Prophezeiung, denn sie nimmt vorweg, was uns für die Ewigkeit im himmlischen Jerusalem verheißen ist. Nichts von dem, was wir in der Kirche tun können, hat einen in so hohem Maße eschatologischen und prophetischen Charakter wie die eucharistische Kontemplation. Am Ende wird das Lamm nicht mehr geopfert, wird auch sein Fleisch nicht mehr gegessen werden. Das heißt Konsekration und Kommunion werden aufhören – die Kontemplation des für uns geopferten Lammes aber wird nie enden. Genau dies nämlich ist es, was die Heiligen im Himmel tun (vgl. Offb 5,1ff.). Wenn wir vor dem Tabernakel knien, dann stimmen wir bereits ein in den Chor der Kirche in jener Welt: sie vor, wir gleichsam hinter dem Altar; sie in der Schau, wir im Glauben.
Im Buch Exodus lesen wir: Während Mose vom Berg herunterstieg, wusste er nicht, dass die Haut seines Gesichtes Licht ausstrahlte, weil er mit dem Herrn geredet hatte (Ex 34,29). Mose wusste es nicht, und auch wir werden es nicht wissen (und das ist gut so); doch vielleicht wird dies auch uns widerfahren, wenn wir nach solchen Augenblicken zu unseren Brüdern zurückkehren – vielleicht wird ihnen auffallen, dass unser Gesicht Licht ausstrahlt, weil wir den Herrn betrachtet haben. Und dies wäre das schönste Geschenk, das wir ihnen machen könnten.